BKH Günzburg: Einzigartiges Netzwerk für Kinder psychisch erkrankter Eltern

04. Juli 2023: Die Angebotspalette für betroffene Mädchen und Buben in der Region um Günzburg sucht in der Bundesrepublik seinesgleichen. Einen großen Anteil am Auf- und Ausbau hat Susanne Kilian. Mit einem Fachtag verabschiedete sie sich in den Ruhestand.
Netzwerk „Hilfen für Kinder psychisch kranker Eltern“ - Foto: Georg Schalk, Bezirkskliniken Schwaben

Sie stehen für das bundesweit einzigartige Netzwerk an Hilfen für Kinder von psychisch erkrankten Eltern: (von links) Artur Geis, Carina Mandl, Ines Lindel, Miriam Ott, Prof. Matthias W. Riepe, Roswitha Bajorat, Sabine Noelke-Schaufler, Stephan Knoll, Susanne Kilian und Livia Koller.

Im Raum Günzburg ist ein Netzwerk entstanden, das bundesweit einzigartig ist. Es fängt Kinder seelisch erkrankter Eltern auf und gibt den Familien Hilfen. Um dieses Netzwerk sichtbar zu machen und zu zeigen, „wie weit Günzburg streut“, fand ein Fachtag „Hilfen für Kinder psychisch kranker Eltern“ im Festsaal des Bezirkskrankenhauses (BKH) statt. Knapp vier Stunden erfuhren ca. 90 Besucherinnen und Besucher (etwa 80 davon in Präsenz und sieben online), welche Projekte sich in fast zwei Jahrzehnten Arbeitskreis „Kinder psychisch belasteter Eltern“ entwickelt haben und wie sie heute arbeiten.

Ganz im Sinne von Susanne Kilian: Für die 66-jährige Diplom-Sozialpädagogin und Systemische Familientherapeutin war es ein besonderer Tag. Zum einen durfte sie den Fachtag moderieren, zum anderen war es ihr letzter Arbeitstag nach 15 Jahren BKH (vorher Universität Ulm). 17 Jahre lang stand sie an der Spitze von FIPS,  dem Unterstützungsangebot für Familien mit einem psychisch belasteten Elternteil am BKH. Susanne Kilian hat in dieser Zeit nicht nur hunderte Familien beraten, sondern sie hat auch das Netzwerk ausgebaut und mit Leben erfüllt. „Eine große Leistung“, stellte Prof. Matthias W. Riepe fest. Frau Kilian habe  nicht nur Patientinnen und Patienten vor sich gehabt, sondern meist auch deren Angehörige aus der Familie, so der kommissarische Ärztliche Direktor der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik. „Und je jünger, desto größer die Herausforderung.“ An diesem heutigen Tag, so Riepe, mischten sich Tränen der Trauer, dass die verdiente Mitarbeiterin in den Ruhestand geht, mit Tränen der Freude, dass es weitergeht: Nachfolger ist der 28-jährige Sozialpädagoge und angehende Familientherapeut Stephan Knoll.

Sabine Noelke-Schaufler, Leiterin der Abteilung Jugend und Familie im Landratsamt Günzburg, bezeichnete Susanne Kilian als „klassische Brückenbauerin zwischen zwei Welten“ und meinte damit die Jugendhilfe und die Erwachsenenpsychiatrie. „Du hast ein stabiles und gutes Fundament errichtet. Wir können heute drübergehen und es hält. Danke für Dein Wirken!“, so Noelke-Schaufler. Dies sei deshalb so wertvoll, weil eine psychische Störung eines Elternteils für die ganze Familie eine große Herausforderung ist.

Wenn ein Vater oder eine Mutter zum Beispiel an Depressionen erkrankt, dann belastet die Diagnose und ihre Folgen die ganze Familie. Besonders oft leiden Kinder darunter. „Familien sprechen oftmals nicht über psychische Erkrankungen, schotten sich von der Außenwelt ab. Kinder sind häufig verunsichert, fühlen sich allein gelassen“, weiß Knoll. „Kinder sind sensible Beobachter. Symptome der Krankheit und das Verhalten der Eltern können sie oft nicht nachvollziehen.“ Manche Buben und Mädchen beziehen das krankhafte Verhalten ihres Vaters oder ihrer Mutter auf sich, geben sich selbst die Schuld. Sie übernehmen zum Teil elterliche Aufgaben, wie das Versorgen der Geschwister oder Tätigkeiten im Haushalt. „Nicht wenige sind besorgt, dass sie ihre Eltern verraten, wenn sie sich jemanden anvertrauen“, hat der Sozialpädagoge beobachtet.

Deshalb sei es so wichtig, die betroffenen Kindern und deren Familien zu unterstützen. „Die Zusammenarbeit zwischen der Erwachsenenpsychiatrie und der Jugendhilfe in unserem Landkreis ist von unschätzbarem Wert“, sagte die stellvertretende Landrätin Monika Wiesmüller-Schwab. Die Hilfen des Netzwerkes ermöglichten Kindern und Jugendlichen eine bessere Zukunft. „Jedes Kind verdient eine sichere und liebevolle Umgebung“, so Wiesmüller-Schwab.

Welche Hilfen gibt es? Und wie arbeiten die Netzwerkpartner? Das wurde im Verlauf des Fachtages deutlich. Hier ein kurzer Überblick zu den Angeboten:

  • FIPS – Beratung für Familien mit einem psychisch belasteten Elternteil am BKH Günzburg. Ein niederschwelliges Hilfsangebot für psychisch belastete Eltern mit minderjährigen Kindern. Das Unterstützungsangebot startete 2006 als Spendenprojekt und ist seit 2009 innerhalb der Psychiatrischen Institutsambulanz (PIA) fest etabliert. FIPS bietet systemische Beratung und Familientherapie, Psychoedukation von Familien, sozialpädagogische Beratung und Begleitung, Runde Tische und Netzwerke sowie Hausbesuche
  • Klinikinterner Elternkurs „Starke Eltern – starke Kinder“. Für Eltern, die sich aktuell in stationärer oder ambulanter Behandlung im BKH befinden. Das therapeutische, klinikinterne Angebot findet jeden Donnerstagvormittag statt
  • Mutter-Vater-Kind-Behandlung. Für Frauen, die psychisch krank sind oder waren, und schwanger werden. In einer psychiatrischen Station im BKH stehen für sie und ihre bis zwei Jahre alten Kinder zwei Plätze zur Verfügung, wie Oberärztin Miriam Ott erläutert. Dort gibt es Laufstall, Babyspielsachen und Wickeltisch, was für eine Erwachsenenpsychiatrie eher ungewöhnlich ist. Das Angebot verschiedener Therapieformen und vieler Angehörigengespräche gilt grundsätzlich auch für Väte
  • Eltern-Kind-Wohnen. Das Förderungswerk St. Nikolaus in Offingen stellt hierfür sieben Appartements zur Verfügung. Das Eltern-Kind-Wohnen ist eine heilpädagogische Jugendhilfemaßnahme für junge Mütter oder Väter und eine gemeinsame Wohnform mit dem Säugling bzw. Kleinkind. Die Betroffenen werden intensiv betreut, die Hilfe ist schnell und umfassend, um einen sofortigen Schutz des Kindes und langfristig eine Verbesserung der Lebenssituation von Mutter/Vater und Kind zu erreichen. Wie Carina Mandl und Ines Lindel als Verantwortliche  berichteten, gibt es zudem eine begleitete Elternschaft, die an maximal 20 Stunden pro Woche Hausbesuche anbietet. Finanziert wird sie vom Bezirk Schwaben und dem Jugendamt.
  • Kindergruppe. Seit 2006 bietet die KJF Erziehungs-, Jugend- und Familienberatung eine Präventionsgruppe für Kinder mit einem psychisch erkrankten Elternteil an. Inzwischen ist sie in der Beratungsstelle in Leipheim verortet. „Mittlerweile läuft die 16. Gruppe. Wir hatten schon 96 Kinder bei uns“, informiert Artur Geis, Leiter der Erziehungsberatung im Landkreis Günzburg. Über einem Zeitraum von knapp drei Monaten (10 Sitzungen) treffen sich alle zwei Wochen freitags ca. acht Mädchen und Buben zwischen sieben bis 13 Jahren. Ziel ist die Aufklärung über die elterliche Erkrankung, um so die Entstehung von Schuldgefühlen und eine erhöhte Übernahme von Verantwortung (Parentifizierung) zu verhindern
  • Familiensprechstunde. Seit einem Jahr hält die Erziehungsberatung auch eine Familiensprechstunde für stationäre Patientinnen und Patienten und deren Kinder ab.
  • Patenschaften für Kinder psychisch kranker Eltern. Seit 2011 bietet der Kinderschutzbund Günzburg solche Patenschaften an. Nach Informationen von Roswitha Bajorat kümmern sich bis zu 15 Paten um betroffene Mädchen und Buben. „Insgesamt 39 Kinder mit einem Durchschnittsalter von sechs Jahren haben von diesem Modell schon profitiert“, so Bajorat. Finanziert wird das Projekt vom Bezirk und Landkreis; zehn Prozent an Eigenanteil kommt vom Kinderschutzbund. Eine vergleichbare Einrichtung ist „Compagnon“, das sich aus der Kindersprechstunde am BKH Augsburg gegründet hat. Livia Koller stellte das Patenschaftsprojekt in Günzburg vor. Compagnon erhielt unlängst den Bürgerpreis des Landtages 2023. Die mehrfach ausgezeichnete  Kindersprechstunde wurde 2007 aus der Taufe gehoben und betreute vergangenes Jahr 381 Kinder aus der Stadt und dem Landkreis Augsburg sowie aus dem Kreis Aichach-Friedberg.