Ambulant vor stationär: 50 Jahre Psychiatrie-Reform

30. Oktober 2025: Mit der sogenannten Psychiatrie-Enquete startete 1975 ein Paradigmenwechsel in der psychiatrischen Versorgung: Erstmals standen die Bedürfnisse des Menschen im Mittelpunkt. Statt Langzeitaufenthalten erhalten Patientinnen und Patienten heute – wenn möglich – eine ambulante und wohnortnahe Versorgung.
2025 Psychiatrie Enquete Gesprächssituation Foto Heiko Grandel (1)

Isolation, Fixierungen, Fremdbestimmtheit: Die zum Teil menschenunwürdigen Zustände in der deutschen Psychiatrie offenbarte 1975 ein Abschlussbericht des Deutschen Bundestags. Anlässlich des 50. Jubiläums der Enquete veranstaltete der Bezirk Schwaben einen Fachtag, bei dem Ärztinnen und Ärzte sowie Fachpersonal die psychiatrische Versorgung in den Blick nahmen. „Die Psychiatrie-Enquete ist auch für die Region Schwaben ein wichtiger Meilenstein“, sagte Bezirkstagspräsident Martin Sailer im Vorfeld der Tagung. „Der Bezirk und die regionalen Träger der Soziallandschaft können stolz darauf sein, was wir bereits geschafft haben. Gleichzeitig ist das Jubiläum ein Ansporn, um weiter an der psychiatrischen Versorgung in Schwaben zu arbeiten.“ 

Bis zur Enquete galten psychische Erkrankungen oftmals als Tabu-Thema – auch im Zusammenhang mit den bis dahin noch nicht aufgearbeiteten Krankenmorden in der NS-Zeit. „Bis 1980 folgten Krankenhäuser Regeln, die keine individuelle Entwicklung der Patientinnen und Patienten zuließen. Es gab eine strikte Geschlechtertrennung, Eigentum war nicht zugelassen und sogar die Waschtage waren festgelegt“, erinnert sich Professor Dr. med. Michael von Cranach an die Zeit vor der Enquete. Der Mediziner, Psychiater und Autor leistete ab 1982 Pionierarbeit für die Auseinandersetzung mit den Verbrechen der NS-Psychiatrie. Seine Arbeit ist bis heute maßgeblich.

Traurige Ausgangslage

Nicht nur in Kliniken isolierte das medizinische Personal Menschen mit psychischen Erkrankungen. Auch die Versorgung durch niedergelassene Fachärztinnen und -ärzte und psychotherapeutische Reha-Einrichtungen wiesen eine skandalöse Versorgung auf. An vielen Stellen war sie gar nicht vorhanden. In ganz Schwaben gab es lediglich zwei Einrichtungen, die sich der Versorgung Betroffener annahmen: Die heutigen Bezirkskliniken Günzburg und Kaufbeuren.  

Fortschritte

Zu den wesentlichen Forderungen zählten die Gleichstellung von Menschen mit seelischen und körperlichen Erkrankungen, die adäquate Ausbildung der Mitarbeitenden, die Vermeidung von Zwang und Gewalt sowie die Umstrukturierung der großen psychiatrischen Krankenhäuser. Erstmals wurden die Wünsche der Patientinnen und Patienten in der therapeutischen Versorgung berücksichtigt und Betroffene immer, da wo möglich, ambulant versorgt.

Langfristige Auswirkungen

Die Enquete als Ausgangspunkt brachte viele weitere Umsetzungen in der psychiatrischen Versorgungslandschaft mit sich. In der 2008 erlassenen UN-Behindertenrechtskonvention haben sich Staaten dazu verpflichtet, Inklusion konsequent voranzutreiben. Deutschland setzte das Konzept 2016 auf nationaler Ebene als Bundesteilhabegesetz um. Zu den Verbesserungen für Menschen mit Behinderungen und mit seelischen Erkrankungen sollen Betroffene künftig mehr Kontrolle über ihre Behandlung haben. Weitere Meilensteine sind die Empfehlungen für psychosoziale Therapien (S3-Leitlinie) 2013 und das 2018 verabschiedete Bayerische Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz. Beide Maßnahmen zielen auf eine verbesserte Lebensqualität und eine verbesserte Partizipation für Menschen Behinderungen und psychischen Erkrankungen ab.

Der Mensch im Mittelpunkt

Seit der Einführung der Psychiatrie-Enquete stellt die soziale Versorgungslandschaft den Menschen in den Mittelpunkt. Eine ambulante Versorgung wurde etabliert und schrittweise ausgebaut: Der Bezirk Schwaben ist Begründer von Suchtberatungsstellen, Sozialpsychiatrischen Diensten und Tagesstätten in allen Landkreisen und in jeder kreisfreien Stadt Schwabens. Vertreterinnen und Vertreter verschiedener Einrichtungen, Behörden und Dienste der psychosozialen Versorgung vernetzen sich seit Anfang der 2000er in Gemeindepsychiatrischen Verbünden und Teilhabe-Netzwerken. Der Fokus liegt nun klar auf den Bedarfen der Betroffenen und ihren Teilhabemöglichkeiten in der Gesellschaft.

Hilfe in der Krise

2021 geht die Versorgungslandschaft in Bayern und Schwaben noch einen Schritt weiter und startete die Krisendienste Bayern. Bei dem Rund-um-die-Uhr Angebot für Menschen in schwierigen Lebenslagen leisten Fachkräfte unter der kostenlosen Telefonnummer 0800 / 655 3000 an 365 Tagen im Jahr in mehr als 120 Sprachen telefonische Soforthilfe. In besonders dringenden Fällen verständigt die Leitstelle mobile Teams, die in ganz Schwaben so schnell wie möglich überall dort sind, wo sie gebraucht werden. Das Angebot richtet sich an alle Menschen, die selbst von einer Krise betroffen sind, sowie an Angehörige und andere Bezugspersonen.

Das Erbe der Enquete

Der Umgang mit Menschen mit psychischen Erkrankungen hat sich seit der Psychiatrie-Enquete grundlegend gewandelt. Eine Behandlung findet kooperativ und auf Augenhöhe statt. Betroffene können mitsprechen, ihre Bedarfe äußern und ihre Perspektive einbringen – immer nach dem Ansatz „ambulant vor stationär“. Auch heute noch könnte das Thema seelische Gesundheit nicht präsenter sein, denn jeder dritte Mensch in Deutschland wird im Laufe des Lebens psychisch erkranken.

Interviewanfragen

Der Mediziner, Psychiater und Autor Prof. Dr. med. Michael von Cranach steht Ihnen für Interviews gerne zur Verfügung. Anfragen per E-Mail bitte an: pressestelle@bezirk-schwaben.de 

Video:

https://youtu.be/R17DYu66uf4