Teilhabe-Netzwerk Memmingen-Unterallgäu: Wie Menschen mit Behinderungen und psychischer Erkrankung mitgestalten können

30. Juli 2025: Betroffene sollen mitreden, wenn es um sie geht – unter dieser Vorgabe ist vor einem Jahr das Teilhabe-Netzwerk des Bezirks Schwaben im Landkreis Unterallgäu und in der Stadt Memmingen gestartet. In dem Netzwerk kommen Menschen mit Behinderungen und psychischer Erkrankung mit Kommunen, Verbänden und sozialen Einrichtungen zusammen. Zwei Betroffene erzählen, was sie im Teilhabe-Netzwerk bewirken wollen
Aus der eigenen Erfahrung Gutes für andere Betroffene bewirken: Rebekka Richter (Mitte) und Holger Klinger engagieren sich im Teilhabe-Netzwerk Memmingen Unterallgäu. Bildnachweis: Tobias Atzkern

Arbeitsplätze für Menschen mit Behinderungen, Barrierefreiheit in sozialen Einrichtungen, Versorgungsangebote bei psychischen Erkrankungen: Wenn sich der Bezirk Schwaben mit Trägern sozialer Angebote zusammensetzt, geht es um Menschen, die Unterstützung brauchen. Bislang trafen sich vor allem Vertreter/-innen aus Politik und Verwaltung, von Wohlfahrtsverbänden oder sozialen Einrichtungen – in Memmingen und im Unterallgäu sind dank des Teilhabe-Netzwerks jetzt auch Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen dabei.

Teilhabe als Menschenrecht
Der Bezirk ist in Schwaben für die überörtliche Sozialhilfe zuständig und bezahlt zum Beispiel Leistungen für Menschen mit Lernschwierigkeiten, körperlichen oder psychischen Behinderungen. Dazu zählen Plätze in Wohngruppen oder Tagesstätten für seelische Gesundheit. Dass Betroffene im Teilhabe-Netzwerk ihre Perspektive zu Leistungen einbringen, die für sie gedacht sind, findet Bezirkstagspräsident Martin Sailer selbstverständlich: „Die UN-Behindertenrechtskonvention und das Bundesteilhabegesetz verlangen, dass Menschen mit Behinderungen selbstbestimmter leben können. Teilhabe ist ein Menschenrecht.“

Netzwerk für zahlreiche Betroffene in der Region
Im Teilhabe-Netzwerk Memmingen-Unterallgäu versammeln sich 17 soziale Träger, darunter auch das Bezirkskrankenhaus Memmingen. Allein Angebote der Mitglieder wie Tagesstätten, sozialpsychiatrische Dienste und Suchtberatungsstellen nutzen rund 2.000 Menschen im Jahr. Einer von ihnen ist Holger Klinger. Er besucht in Memmingen die Tagesstätte für seelische Gesundheit „In der Kappel" und engagiert sich im Teilhabe-Netzwerk. „Ich bin Sprachrohr für andere Betroffene und kann Einrichtungen und Entscheidungsträger unterstützen, indem ich meine eigenen Erfahrungen einbringe.“

Austausch auf Augenhöhe
Klingers Perspektive soll die soziale Landschaft in der Region bereichern. Neben dem Austausch bestehen die Netzwerktreffen auch aus Vorträgen und Workshops. Menschen mit Behinderungen und mit psychischen Erkrankungen informieren sich über ihre Rechte, Angebote und neue Projekte. Gleichzeitig sind Vertreterinnen und Vertreter aus der Politik, aus Behörden und sozialen Verbänden eingeladen. Leitungen von Einrichtungen treffen dann auf Menschen mit Behinderungen, die ihnen zum Beispiel Rückmeldungen geben, wie barrierefrei ihre Angebote wirklich sind. Politikerinnen und Politiker erfahren aus erster Hand, auf welche Hürden Menschen mit psychischen Erkrankungen etwa bei der Suche nach der passenden Beratungsstelle stoßen.

Betroffene als Erfahrungsexperten
„Mir ist es wichtig, dass wir zusammen auf Augenhöhe kommunizieren“, sagt Rebekka Richter, die sich wie Holger Klinger als Betroffene für das Teilhabe-Netzwerk engagiert und ebenfalls aus Memmingen kommt. „Gute Kommunikation gelingt für mich, wenn einfache Sprache anstelle von Fachsprache genutzt wird. Eines meiner Ziele ist es, dass langfristig für Betroffene mehr Infomaterial in einfacher Sprache herausgebracht wird.“
Rückmeldungen wie diese sind sehr wichtig für den Vorstand des Teilhabe-Netzwerks Memmingen-Unterallgäu, Raimund Steber, der als Chefarzt das Bezirkskrankenhaus Memmingen leitet: „Betroffene sind Erfahrungsexperten. Ihre Ideen, ihre Wünsche und ihre Kritik sind unwahrscheinlich wertvoll. Es ist längst überfällig, dass wir sie einbeziehen. Schon jetzt ist klar: Der gegenseitige Austausch ist eine Bereicherung für alle Seiten.“

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Interview mit Rebekka Richter und Holger Klinger

„Teilhabe heißt für mich, dass ich genauso viel wert bin wie jeder andere Mensch“
Rebekka Richter und Holger Klinger leben in Memmingen und besuchen dort die Tagesstätte für seelische Gesundheit „An der Kappel“. Um die Situation von Menschen mit Behinderungen und psychischer Erkrankung zu verbessern, engagieren sie sich im Teilhabe-Netzwerk Memmingen-Unterallgäu.

Frau Richter, Herr Klinger, was hat Sie motiviert, ins Teilhabe-Netzwerk einzusteigen?
Holger Klinger: 2015 hatte ich ein Burnout, musste eine Trennung verarbeiten. Es folgten Aufenthalte in der Psychiatrie. Inzwischen besuche ich regelmäßig die Tagesstätte „An der Kappel“. Im Teilhabe-Netzwerk beteilige ich mich, weil ich andere Betroffene unterstützen will. Für sie bin ich ein Stück weit Sprachrohr, wenn ich mich mit Einrichtungen und Entscheidungsträgern austausche. Mich motiviert es, dass ich mich im Netzwerk mit meinen eigenen Erfahrungen einbringen kann.
Rebekka Richter: Ich will die Bedingungen für andere Menschen mit psychischen Erkrankungen verbessern. Themen wie psychische Erkrankungen und Behinderungen bekommen meiner Meinung nach viel zu wenig öffentlich Beachtung.

Ist das Teilhabe-Netzwerk der richtige Ort, um diesen Themen mehr öffentliche Beachtung zu verschaffen?
Klinger: Betroffene habe eine eigene Sicht, doch nicht immer wird mit ihnen gesprochen. Im Teilhabe-Netzwerk können wir uns artikulieren und schon mal Einrichtungen und Entscheidungsträgern eine andere Sichtweise vermitteln. Diese Sichtweise gibt ein ausgewogeneres Bild als es zum Beispiel nur eine Akte könnte.
Richter: Mir ist es wichtig, dass wir zusammen auf Augenhöhe kommunizieren. Augenhöhe bedeutet für mich zum Beispiel, dass einfache Sprache anstelle von Fachsprache genutzt wird. Eines meiner langfristigen Ziele ist, dass mehr Infomaterial in einfacher Sprache herausgebracht wird. Auch dadurch kann mehr öffentliche Aufmerksamkeit für unsere Themen entstehen.

Braucht das Teilhabe-Netzwerk selbst noch mehr Aufmerksamkeit?
Richter: Auf jeden Fall. Allein weil es noch genug Betroffene in der Region gibt, die nicht wissen, welche Angebote es in unserer Region gibt und welche Träger für sie zuständig sind.
Klinger: Wir sind noch sehr jung in der Region. Uns gibt es erst seit einem Jahr. Für die Zukunft wünsche ich mir, dass es in unserer Gesellschaft normal sein wird, dass es ein Netzwerk wie unseres gibt, in dem Betroffene selbstverständlich einbezogen werden.

Einbezogen werden – fällt das für Sie unter dem Begriff „Teilhabe“?
Richter: Für mich bedeutet es, dass ich mich einbringen und meine Ideen in den Raum werfen kann. Dass ich mit anderen ein gemeinsames Ziel verfolge.
Klinger: Teilhabe heißt für mich, dass ich genauso viel wert bin wie jeder andere Mensch – egal, ob mit psychischer Erkrankung, mit Behinderung oder als „Normalbürger.“